Aleksej Ponomarjow
„Aber ich habe etwas, was man mir und
meinem Leben nicht nehmen kann“
von Olga Ponamareva
Vorbemerkung:
Von klein auf war Bremen für Olga Ponamareva eng mit den Geschichten ihres Großvaters verbunden: Aleksej Ponomarjow kam 1942 unfreiwillig nach Bremen. Er war Zwangsarbeiter auf der Norddeutschen Hütte, dann wurde er von der Bremer Gestapo ins KZ Neuengamme verfrachtet. Er erlebte seine Befreiung nach der Bombardierung der KZ-Schiffe am 3. Mai 1945. Olgas Großvater starb 2007 in Lugansk.
Lugansk, im Osten der Ukraine, ist Olgas Heimatstadt. Dort kam sie 1987 zur Welt. 2014 haben bewaffnete Separatisten die „Volksrepublik Luhansk“ ausgerufen. Seither ist nichts mehr wie es war. Heute lebt Olga in Kramatorsk und arbeitet für eine NGO.
Am 3. Mai 2020, wenn zum 75. Jahrestag daran erinnert wird, dass der Faschismus besiegt wurde und dennoch wenige Stunden vorher Tausende Menschen in der Neustädter Bucht starben, hätte Olga an jener Stelle, an der ihr Großvater 1945 als einer der wenigen das Glück hatte zu überleben, bei der internationalen Gedenkveranstaltung am Cap-Arcona Ehrenmal in Neustadt/Pelzerhaken sprechen sollen. Da die geplante Gedenkveranstaltung wegen der Corona-Krise nicht stattfinden kann, wird Olga hoffentlich im Mai 2021 nach Hamburg reisen.
Ada und Alexej. Mein Großvater und meine Großmutter. Um 1950.
Foto: Olga Ponamareva (private Sammlung)![]()
Mein Großvater um 1949/1950.
Foto: Olga Ponamareva (private Sammlung)![]()
Mein Großvater während einer seiner Expeditionen in Sibirien.
Foto: Olga Ponamareva (private Sammlung)![]()
Mein Großvater während einer weiteren Expedition in Sibirien.
Foto: Olga Ponmareva (private Sammlung)![]()
Mein Großvater und meine Großmutter im Sommerurlaub auf der Krim.
Foto: Olga Ponamareva (private Sammlung)![]()
Ich, 24. August 2015, Unabhängigkeitstag, Kiew.
Foto: Olga Ponamareva![]()
Die Fassade meiner ehemaligen Schule in Luhansk. Das Gebäude wurde von Artilleriebeschuss getroffen. Sommer 2014.
Foto: Olga Ponamareva![]()
Sportgelände der Universität für Medizin. In der Nähe meines Zuhauses in Luhansk. Sommer 2014.
Foto: Olga Ponamareva![]()
Donetsk, 7. Juni 2014. Tag unserer Hochzeit. Einen Monat später werden wir Donetsk verlassen – wahrscheinlich für immer. Dieses Schiff nahe unserer Wohnung war ein Restaurant. Im Sommer 2014 brannte es nach Beschuss ab.
Foto: Olga Ponamareva![]()
Im Kulturhaus Walle Brodelpott sprach Olga Ponamareva am 4. Dezember 2019 über die Geschichte ihres Großvaters und den intergenerationellen Fortgang der Erinnerungen (unterstützt von der Dolmetscherin Chaya S.).
Foto: Angela Piplak / Brodelpott![]()
Olga Ponamareva und Eike Hemmer, der sich für die Aufarbeitung der Geschichte der "Norddeutschen Hütte" einsetzte.
Foto: Denkort Bunker Valentin / LzpB![]()
Olga Ponamareva und Kathrin Herold (freie Mitarbeiterin am Denkort Bunker Valentin), die die Veranstaltung im Brodelpott moderierte.
Foto: Denkort Bunker Valentin / LzpB
"Wenn es viele Erinnerungen gibt, scheint es sehr leicht zu sein, etwas zu schreiben, immerhin gibt es doch so viele Dinge, die erzählt werden können. Aber es stellt sich heraus, dass es sehr schwierig ist in der Vielzahl der Erinnerungen die lebhaftesten und wichtigsten auszuwählen. Vor allem weil es so viele sind. So unterschiedlich. Und keine Beschreibung kann jemals auch nur annähernd die Bedeutung wiedergeben, die diese Erinnerungen für mich persönlich haben.
Mein Großvater wollte immer über sein Leben schreiben. Er hatte so viele Geschichten, dass man aus ihnen einen ganzen Abenteuerroman hätte schreiben können! Trotzdem hat er mir praktisch keine Schriftstücke zu seinen Erinnerungen hinterlassen. Mir war eigentlich immer klar, dass es nicht deshalb nicht mehr dazu gekommen ist, weil er in seinem Leben nie die Zeit dafür gefunden hatte, sondern, weil er eben ein unglaublich guter Geschichtenerzähler war und kein Schriftsteller.
Heute fällt es mir schwer, mich daran zu erinnern, wann, oder was mein Großvater mir das erste Mal von seiner Geschichte erzählte – wie er nach Deutschland deportiert wurde, wie er in das Konzentrationslager gekommen ist, wie er im Lager überlebte und wie er nach dem Schiffsunglück gerettet wurde. Über seine Rückkehr aus Deutschland nach Hause und über sein ganzes weiteres Leben. All diese Geschichten standen für mich nie so alleine für sich da wie die Geschichten, die unsere Großeltern einmal im Jahr vor dem 9. Mai immer erzählten. Diese unglaublichen Geschichten schienen mich mein ganzes Leben lang, schon seit meiner Kindheit, zu begleiten. Und irgendwie wurden sie dann auch Teil meiner eigenen Geschichte.
Bis Anfang der 1990er Jahre war es in der Ukraine nicht akzeptiert, von den eigenen Erfahrungen als Zwangsarbeiter*in in Deutschland zu sprechen. Es wurde als nicht heldenhaft wahrgenommen, wenn man in direkten Handlungen, die nichts mit dem Kampf gegen den Feind zu tun hatten, verwickelt war. Ehemalige Zwangsarbeiter*innen hatten keine Auszeichnungen, keinen Status als Kriegsteilnehmer*in oder keine Privilegien wie die Veteran*innen des Großen Vaterländischen Krieges. Die Geschichten über die Zeit als Zwangsarbeiter*in in Deutschland wurden sogar als etwas Unerwünschtes, als etwas Schändliches oder als etwas nicht Beachtenswertes behandelt. Sogar als Hilfe für den Feind verurteilt. Das ist der Grund dafür, dass so viele Geschichten von Zwangsarbeiter*innen nie erzählt worden sind und mit den Zeitzeug*innen in Vergessenheit gerieten.
Wenn es Menschen nach ihrer Rückkehr von Deutschland in die UdSSR gelang, nicht unter die Mühlsteine der stalinistischen Repression zu geraten, dann haben sie wahrscheinlich viele Jahre lang geschwiegen – manchmal für immer. Wahrscheinlich ist es deswegen so, dass die Kinder ehemaliger Zwangsarbeiter*innen aus der ehemaligen UdSSR weit weniger wussten als ihre Enkelkinder. Mit dem Zerfall der Sowjetunion begannen die Geschichten, welche vorher zum Schweigen gebracht worden waren, öfter und lauter gehört zu werden. Und so erfuhren schließlich viele Familien über das Leben und Schicksal ihrer Eltern, ihrer Großmütter und ihrer Großväter.
Seit Mitte der 1990er Jahre wird in der Ukraine über mögliche Entschädigungszahlungen an ehemalige Opfer des Naziregimes gesprochen. Das Land durchlebte eine anhaltende wirtschaftliche Krise und Transformation. Und für viele war die Möglichkeit Entschädigungszahlungen zu erhalten ein Anreiz, um mit dem Schweigen aufzuhören und damit zu beginnen, über ihre Geschichte zu sprechen.
Zu viele Menschen, die damals schon älter waren, konnten keine Fakten zu der Zwangsarbeit, die sie in Deutschland während der Kriegsjahre verrichten mussten, nachweisen. Schon damals hatte mein Großvater die Idee, in Lugansk eine Zweigstelle von einer öffentlichen Organisation zu eröffnen – die Internationale Vereinigung der ehemaligen jugendlichen Häftlinge des Faschismus. Die wichtigste Aufgabe der Organisation war die Unterstützung beim Sammeln und Suchen nach Daten und archivierten Bescheinigungen über die Zwangsarbeit in Deutschland, die später dazu beitragen könnten, den Status eines Opfers des Naziregimes und Entschädigungszahlungen zu erhalten. Großvater hatte sich an der Arbeit in der Organisation aktiv beteiligt, bis zu dem Zeitpunkt als sein Gesundheitszustand es ihm nicht mehr erlaubte. In der Wohnung meiner Eltern in Lugansk stehen bis heute ganze Kisten voll mit Briefen von Menschen aus allen Ecken der Oblaste Lugansk und Donezk, sogar manchmal aus anderen Regionen der Ukraine. All diese Menschen waren irgendwann mal in der Vergangenheit auf der Suche nach Hilfe zur Rekonstruktion von Dokumenten, die ihren Einsatz in der Zwangsarbeit belegt hätten. All diese Menschen haben in ihren Briefen über ihre Geschichten und ihre Schicksale gesprochen – eines ähnelte dem anderen, aber manchmal so unglaublich und erstaunlich, dass es schwer vorstellbar war, wie jemand dies durchmachen - und überleben konnte.
Ich denke, dass es zu diesem Zeitpunkt war, dass ich mich dazu entschied, die Geschichte tiefer zu studieren, sie als mein Spezialgebiet auszuwählen und meine berufliche Tätigkeit mit diesem Wissen, welches sie (die Geschichte) mir gibt, zu verbinden. Geschichte als Gesellschaftswissenschaft. Geschichte allgemein als Sammlung von Fehlern, erlernten Lektionen, der schlimmsten und besten Handlungen der Menschheit.
Meine Eltern waren nicht sehr glücklich darüber, dass ich mich für jahrelange Forschung entschieden hatte, welche nicht so geschätzt wird wie eine juristische oder wirtschaftliche Tätigkeit. Dafür hat mich mein Großvater bei meiner Entscheidung unterstützt, da er glaubte, dass die Handlungen, die jemanden zufrieden machen, viel wichtiger sind als die Möglichkeiten materieller Vorteile. Und er hatte Recht. Ich denke, dass ich mich daran gewöhnt habe Teile meines Lebens vor allem durch das Prisma meiner Ausbildung zu betrachten. Und wahrscheinlich war es diese Betrachtung, die mir sehr geholfen hat, das Jahr 2014 durchzustehen.
Ich verbrachte Neujahr 2014 in Donezk. Im Februar 2013 begannen die Konflikte in Kiew und es wurde klar, dass wir in der Ukraine an der Schwelle einer Wende stehen. Anfang Winter 2014 wurde das Reisen durch die Oblaste Donezk und Lugansk unsicher. Unter den Menschen begannen sich Gerüchte zu verbreiten, dass Menschen ohne eine Nachricht verschwinden. In erster Linie traf es Aktivist*innen, die eine proukrainischen Position vertraten, Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen. Ich habe mich selber niemals als erste, noch zweite oder dritte wahrgenommen. Zu dem Zeitpunkt arbeitete ich bereits fast fünf Jahre lang im zivilen Bereich und unter meinen Freunden und Bekannten gab es viele Aktivist*innen. Einschließlich derer, die die proeuropäische Seite bei den EuroMaidan unterstützten. Ich hatte viele europäische und amerikanische Bekannte und Freunde, ich konnte Englisch sprechen und dies entsprach, in den Augen der Menschen, den Vorstellungen eines westlichen Spions, der Verschwörungstheorien aufbaut und Russland dazu auffordert, Truppen in die Ukraine zu schicken, um die öffentlichen Proteste zu unterdrücken. Dies alles führte zu einem Punkt, wo es mir nicht mehr möglich war, meine Eltern in Lugansk regelmäßig zu besuchen. Meine Reisen in die Stadt, die nur zwei Stunden Fahrt von Donezk entfernt war, hörten auf. Zur gleichen Zeit habe ich verstanden, dass jetzt, in diesem Moment, der Zeitpunkt gekommen ist, wo es kein Zurück mehr geben wird. Etwas Wichtiges wird sich ereignen. Etwas, dass unsere Geschichte und unsere Leben verändern wird. Für immer.
Anfang März 2014 begann es in Donezk leerer zu werden. Immer mehr Menschen verließen die Stadt. Wir lebten mit einem Gefühl eines herannahenden Sturmes. Im Mai gab es ein Referendum mit der Abstimmungssache „Möchten Sie, dass die Oblaste Donezk und Lugansk unabhängig und Teil der Russischen Föderation werden?“. Wie die Resultate des Referendums tatsächlich ausfielen, werden wir wahrscheinlich niemals erfahren. Aber danach begann der Konflikt im Osten der Ukraine in die aktive Phase einzutreten und hörte auf verborgen und begreifbar zu sein. Es gab keine Mutmaßungen oder Spekulationen mehr. Von heute auf morgen füllten sich die Straßen in der Stadt mit Menschen in militärischen Uniformen, oft mit nicht erkennbaren Chevrons oder ganz ohne sie. Dafür mit Gewehren in der Hand. Das war das erste Mal in den 27 Jahren meines Lebens, als ich gesehen habe, wie ein echtes Sturmgewehr aussieht. Keine Requisiten, keine Kopien, sondern echte militärische Waffen, mit denen man töten kann.
Zu sagen, dass es ein Schock war, entspricht dem nicht ganz. Während all der Jahre des Lebens in der Ukraine – einem unabhängigen, europäischen Staat – hätte man nie an diese Dinge, die da passierten, gedacht oder sich jemals vorgestellt. Es sah aus wie eine Art schrecklicher Traum oder eine Szene aus einem Film oder wie aus einem Roman von Kafka. Aber definitiv nicht die Realität! Nicht hier, nicht jetzt und nicht mit mir.
Wir haben Donezk im Juni 2014 verlassen, bevor die aktive Phase der Kämpfe begann. Ich bin froh, dass es so gekommen ist, denn viele unserer Freunde, die in der Stadt geblieben sind, mussten bald zahlreiche Artillerie- und Mörsergranaten, den Mangel an Wasser, Strom und Lebensmitteln in den Geschäften überleben und zahlreiche Stunden am Tag in Kellern und Luftschutzbunkern verbringen. Völliges Chaos und Gesetzlosigkeit, eine Machtlosigkeit, die es zuließ, dass Menschen ohne Gerichtsverfahren entführt und getötet wurden. Viele Menschen haben über Nacht alles verloren, was sie hatten. Das Haus hörte auf sicher zu sein. Und für einige gab es sogar überhaupt kein Haus mehr.
Die Ereignisse jenes Jahres ließen mich wieder an die Geschichten meines Großvaters denken – über die Jahre des Krieges und der Besatzung, die Zwangsarbeit in Deutschland und die Konzentrationslager. Ich habe immer öfter darüber nachgedacht, was hätte passieren oder nicht passieren können, wenn mehr Menschen diese Geschichte gekannt hätten, wenn wir vorsichtiger und besonnener mit den Erinnerungen an den Krieg umgegangen wären? Wenn mehr junge Menschen in den Schulen und Universitäten nicht nur die heroischen Fakten des Zweiten Weltkrieges, sondern auch den sozialen Aspekt des Krieges lernen würden, welchen Einfluss er auf das Leben der einfachen Leute hatte? Wäre es dann nicht möglich, dass das Wissen und die Erinnerung dieser Geschichte uns größere Besonnenheit und Vorsicht, einen größeren Wunsch nach Dialog und einer gewaltfreien Lösung für den Konflikt geben würde? Ich weiß es nicht. Doch ich möchte glauben, dass es möglich ist.
Auf die eine oder andere Weise war das Jahr 2014 geprägt von dem Beginn einer völlig neuen Etappe in unserem Leben. Eine Etappe, die man nennen könnte: unser Leben wird niemals mehr so sein, wie es früher einmal war. Es war notwendig, weiterzuleben und nicht aufzugeben. Auch wenn es nicht leicht war.
Der Kontext in der heutigen Ukraine: der Konflikt im Osten des Landes bleibt ungelöst und dauert an. Er hat nicht nur das Leben von einzelnen Menschen verändert, sondern die gesamte soziale Lage in der Ukraine. Plötzlich kamen Fragen auf, die früher für mich nicht wichtig waren und keine besondere Bedeutung hatten – Sprache, Identität, Staatsangehörigkeit. Im Osten der Ukraine starben jeden Tag Menschen. Sie sterben auch heute noch, nur schockiert es einfach niemanden mehr. Wir haben uns daran gewöhnt, dass der Krieg an unserer Seite, in der Nachbarschaft lebt, aber wir können ihn in keiner Weise beeinflussen.
Ich kann viel und über Stunden darüber sprechen, da all die Ereignisse aus 2014 bis zum heutigen Tag mich irgendwie auf eine besondere Art und Weise getroffen haben. Es scheint mir, dass selbst ein paar Tage nicht ausreichen würden, um alles zu erzählen, was ich im Laufe der Jahre gesehen, gehört und gelernt habe – von den Geschichten meiner Eltern, die im besetzten Lugansk geblieben sind, von meinen Freunden und Bekannten, von Menschen, die von dem Konflikt betroffen sind und mit denen ich die Gelegenheit hatte, zusammen zu treffen und zu arbeiten. Eines kann ich noch sagen, all dies kann nicht mit noch so vielen Worten vermittelt werden. Wahrscheinlich muss man es erleben, um es zu verstehen. Doch ist es besser, dass Sie eine solche Gelegenheit nie erhalten würden.
Ich denke, dass es in der heutigen Welt sehr wichtig ist, sich zu erinnern und nicht die Lektionen der Geschichte, der Vergangenheit zu vergessen. Heute wachsen in der Ukraine zwei ganz neue Generationen von Jugendlichen heran – diejenigen, die in einem patriotischen Paradigma mit dem Fokus auf die Stärkung der ukrainischen nationalen Idee erzogen werden, und diejenigen, die im unkontrollierten Gebiet der Oblaste von Donezk, Lugansk und auf der Krim leben. Das sind zwei verschiedene Welten, zwei komplett verschiedene Informationsbereiche, die die Persönlichkeit jedes Jugendlichen unterschiedlich formen. Es ist naiv zu glauben, dass diese beiden verschiedenen Welten sich im Laufe der Zeit ohne zusätzlichen Aufwand oder Versöhnungsarbeit miteinander versöhnen und sich verstehen werden. Schrecklich, daran zu denken, dass die Kluft zwischen uns wächst und irgendwann so unüberwindbar wird, dass die ukrainische Gesellschaft in zwei Teile geteilt bleiben wird.
Ich möchte keinen Zusammenhang zwischen den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und den heutigen Ereignissen in der Ukraine finden, aber es waren gerade die rücksichtslose Manipulation der Geschichte und die Verzerrung der Fakten über den Großen Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, die im heutigen Konflikt im Osten der Ukraine besonders wirksam waren.
Die Vergangenheit des Großen Vaterländischen Krieges war in den Köpfen so vieler älterer Menschen genau in einem Bild so tief verwurzelt, wie es in den sowjetischen Lehrbüchern zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs beschrieben wird, in denen es keinen Platz für den tragischen Alltag der Zivilbevölkerung gab, weil alles dafür gegeben wurde, das Heldentum der militärischen Operationen zu besingen. Es ist traurig zu erkennen, dass die Ereignisse, die sich heute im Osten der Ukraine abspielen, auf ähnliche Weise in der Zeitgeschichte vermittelt werden könnten. Das tägliche Leben der normalen Menschen, die an der Kreuzung zurückgelassen wurden, interessiert – nicht hier und nicht dort – niemanden. Es ist zu alltäglich.
Mit Sicherheit hätte ich hier weitaus mehr trockene und verständlichere Fakten über das Leben meiner Familie, meines Großvaters und mein Eigenes schreiben können. Wo ich geboren, wie ich aufgewachsen bin, wo ich zur Schule ging, wie ich gearbeitet habe usw. Aber ich denke nicht, dass es so wichtig ist. Es ist wichtig, dass gewöhnliche Menschen Träger der Geschichte sein können, die helfen können, die Welt anders zu sehen. Ich glaube, dass eben dieser Fakt mir heute hilft, nicht schlecht über Russland oder alle russischen Menschen zu denken, auch wenn ich viele Freunde habe, die es in den letzten fünf Jahren nicht geschafft haben, sich mit der Wut, Verzweiflung und dem Hass auseinanderzusetzen, die sie mit sich tragen. Ich kann dies verstehen.
Letztendlich endet jeder Krieg und hinterlässt Spuren und Narben. Aber es hilft auch, das Leben neu zu überdenken. Mein Großvater lebte ein unglaublich intensives und frohes Leben, manchmal lebte er es bis an die Grenzen aus, als ob er die Tatsache ausgleichen wollte, dass er überleben konnte, wo so viele es nicht schafften. In den letzten Tagen vor der Bombardierung des Schiffes lernte mein Großvater im Frachtraum der Thielbek einen Menschen mit dem Namen Aleksej kennen. Aleksej war Russe, nicht viel älter als mein Großvater, studierte Forstwirtschaft an der Universität. Aleksej überlebte, wie tausende Opfer, nicht die Bombardierung der Schiffe am 3. Mai 1945. Bewusst oder nicht, ich bin mir nicht sicher – aber mein Großvater schloss ein Studium in Forstwirtschaft in Woronesch ab, wurde Ingenieur in der Forstwirtschaft, verbrachte mehr als die Hälfte seines Lebens auf Reisen, lebte oft weit weg von zu Hause und kümmerte sich um Wälder. Ich glaube, dass er versuchte ein Leben für Zwei zu leben – für sich und für diesen Aleksej, der nicht überlebte.
Es ist sehr merkwürdig, zu erkennen, dass mein ganzes Leben heute in vielerlei Hinsicht nur meinem Großvater zu verdanken ist. Es ist traurig, dass mir, wie vielen meiner Mitbürger*innen, die Möglichkeit genommen wurde, frei zu den Gräbern unserer Vorfahren zu kommen. Aber ich habe etwas, was man mir und meinem Leben nicht nehmen kann – die Geschichte meiner Familie. Eine Vergangenheit, die nicht verschwiegen wurde, die immer blieb und immer bei mir sein wird. Und das ist wichtig."
Übersetzung aus dem Russischen: Ksenja Holzmann
Ich, 24. August 2015, Unabhängigkeitstag, Kiew.
(c) Olga Ponamareva![]()
Die Fassade meiner ehemaligen Schule in Luhansk. Das Gebäude wurde von Artilleriebeschuss getroffen. Sommer 2014.
(c) Olga Ponamareva![]()
Sportgelände der Universität für Medizin. In der Nähe meines Zuhauses in Luhansk. Sommer 2014.
(c) Olga Ponamareva![]()
Donetsk, 7. Juni 2014. Tag unserer Hochzeit. Einen Monat später werden wir Donetsk verlassen – wahrscheinlich für immer.
Dieses Schiff am Ufer des Kalmius war ein Restaurant. Im Sommer 2014 brannte es nach Artilleriebeschuss ab. Unsere Wohnung war ganz in der Nähe.
(c) Olga Ponamareva